Es ist mal wieder soweit: Du kommst mit einem neuen Stück in die Chorprobe, hast sorgfältig überlegt, wie Du Deinen Chor weiterentwickeln kannst und welches Stück weder zu schwer noch zu leicht ist und auch noch zum bevorstehenden Programm passt. Und dann nach dem ersten Vorstellen der Kommentar aus einer Ecke: "oh nee, das gefällt mir nicht!" Halblaut natürlich, so dass du jetzt vor der Überlegung stehst, ob Du das Thema aufgreifst oder geflissentlich überhörst.
Was diese Entscheidung betrifft, gibt es kein richtig oder falsch: es kommt ganz auf die generelle Stimmung in Deinem Chor an.
Manchmal muss man wohl ein paar erklärende Sätze zu dieser Auswahl sagen, ein anderes Mal ist es besser, diese Mißfallensbekundung zu überhören und das auszusitzen.
Prinzipiell aber kann ich Dich nur ermutigen, die Stücke nicht NUR nach dem Geschmack des Chores auszusuchen. Denn erstens wirst Du selten das Glück haben, wirklich von ALLEN die Meinung zu hören - und das auch, weil zweitens viele sich gar nicht befähigt fühlen, Einschätzungen darüber abzugeben. Und das zu Recht.
Gerade bei Stücken, die nicht bekannt, vielleicht sogar avantgardistisch oder aus einer Epoche sind, aus der man bisher noch wenig gesungen hat, kann sich der einzelne Sänger oft gar nicht vorstellen, wie denn das Endergebnis klingen könnte.
Heute - in Zeiten von youtube und ähnlichen Internetportalen - ist das letzte zum Glück oft ein lösbares Problem. Allerdings kann man auf den Aufnahmen nicht hören, wie der eigene Chor klingen wird - und das macht den ein oder anderen kritischen Geist oft skeptisch: werden wir das auch so schaffen?!
Ein viel wichtigerer Aspekt aber ist die Entwicklung, die man als Chor immer weiter machen sollte - und die ganz automatisch nicht ausbleibt, wenn man sich über Wochen mit einem bestimmten Musikstück beschäftigt. Was am Anfang noch fremd und damit unattraktiv scheint, wird einem mit der Zeit immer vertrauter. Dadurch entdeckt man ganz neue Klänge und entwickelt oft auch ein neues Musikverständnis und damit einen weitergebildeten Geschmack.
Wo am Anfang alle Sänger_innen nur Popsongbearbeitungen singen wollten und vor einem Madrigal zurückschreckten, entdecken die Chormitglieder mit der Zeit, dass viele Popsongs nach ähnlichem Schema funktionieren und ein älteres Chorwerk eine willkommene Abwechslung und Musik mit völlig anderer Substanz bieten kann. Und ein "klassischer" Chor entdeckt seine rhythmischen Fähigkeiten neu und erlebt zum ersten Mal, dass Musik auch äußerlich "bewegen" kann.
Also, liebe Chorleiter - lasst Euch nicht abschrecken, wenn der ein oder andere auf ein neues Stück ablehnend reagiert. Ihr solltet aber gut überlegt haben, WARUM ihr dieses Stück ausgesucht habt und das auch bei Bedarf erläutern. Und wenn ihr erlebt, dass auch NACH dem Konzert noch alle die Augen verdrehen, ist es vielleicht doch nicht die richtige Art von Stücken für Deine Sänger. Dann sortiere es ruhig wieder aus dem Repertoire aus - und Deine Chorsänger_innen freuen sich, dass Du nicht um jeden Preis gegen ihren Willen etwas durchdrücken willst. Und beim nächsten ungewöhnlichen Stück sind sie vielleicht dann etwas zurückhaltender mit ihren Kommentaren...
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